96.000 Schuhkartons und 13.000 Meter Akten! – Das Mannheimer Stadtarchiv bot einen interessanten Einblick in sein großes Herz und einen modernen Ausblick in das zukünftige MARCHIVUM!
Unter dem Motto: „Mobilität im Wandel“ luden die Verantwortlichen des Mannheimer Stadtarchivs zu ihrem Tag der Archive ein, an dem ebenfalls die Ausstellungseröffnung zu der biografischen Vernissage „Migration im Quadrat“ stattfand.
Einen bis auf den letzten Platz gefüllten Friedrich-Walter-Saal, konnte der Leiter Dr. Ulrich Nieß ganz herzlich begrüßen, und freute sich über das große Interesse seitens der Bevölkerung an der Mannheimer Stadtgeschichte, die hier zurückreicht und verewigt ist, bis in ihre Anfänge im Jahr 1605.
Dr. Ulrich Nieß machte deutlich wie wichtig das Stadtarchiv nicht nur für die Stadt, sondern auch für die Bevölkerung ist, und spann dabei gleich den Bogen zum Bau des neuen Marchivums im Hochbunker der Neckarstadt. Das aktuelle Collini-Gebäude entspricht leider nicht mehr den Sicherheitsbestimmungen. Vieles ist veraltet, auch die Fassade bröckelt ab, und man wolle vor allem so ein schreckliches Desaster wie in Köln verhindern, wo ja bei dem Einsturz ein großer Teil der Stadtgeschichte auf einen Schlag vernichtetet wurde.
Die Renovierung, bzw. der Neubau kostet die Stadt Köln rund 90 Millionen Euro. Das neue Mannheimer Stadtarchiv wird mit ca. 21 Millionen deutlich günstiger.
Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz wies in seiner Rede darauf hin, dass Mannheim schon immer eine Stadt war, die von Migration und Einwanderung lebte und kulturell bereichert wurde. So war auch der Gründer der Eichbaumbrauerei Jean du Chaine ein Flüchtling, der sich hier durch sein Unternehmen einen großen Bekanntheitsgrad erwarb. Der Oberbürgermeister ging danach auf einige historische Momente der Stadt ein, und würdigte in diesem Zusammenhang die vorbildliche Arbeit der Stadtarchivmitarbeiter.
Mannheim wird für ihn auch in der Zukunft immer eine weltoffene Stadt bleiben, und von Migration und Einwanderung profitieren. Der OB beendete seine Rede mit einem sehr nachdenklichen Zitat. An einem amerikanischen Autoheck hätte er vor kurzem einen Aufkleber gesehen, dessen Worte man wie folgt auf Deutsch übersetzten kann: „Ein guter Freund erlaubt einem Freund kein Fleisch zu essen!“ – Dieser Spruch sei für ihn nicht die Art von Freundschaft, die die Stadt Mannheim mit ihren Einwohnern und Mitmenschen pflegen wolle. Für ihn sei ein guter Freund derjenige, der seine Freunde ihr Leben so leben lässt, wie sie es für gut und richtig empfinden.
Prof. Dr. Philipp Gassert vom Historischen Institut der Universität Mannheim machte darauf aufmerksam, dass unsere Vorfahren nach dem Zweiten Weltkrieg vor der großen Herausforderungen standen, rund 12 Millionen Flüchtlinge in ein damals völlig zerstörtes Deutschland aufnehmen mussten, und dass es schon damals, sehr große Vorbehalte und Vorurteile seitens der Bevölkerung gab. Diese Vorurteile waren aber nicht nur beim Volke vorhanden, sondern sie wurden sogar in der Presse geschürt. Dr. Gassert zitierte daraufhin einen Artikel der Rhein-Neckar-Zeitung vom 13. Apirl 1949:
„Die Flüchtlinge sind grundsätzlich schmutzig. Sie sind grundsätzlich primitiv, ja sie sind sogar grundsätzlich unehrlich. Dass sie faul sind, versteht sich am Rande und dass sie lieber einen braven Einheimischen betrügen, als ihm eine Arbeit abzunehmen. Ganz abgesehen davon, dass sie das streitsüchtigste Volk sind, das in unseren Gassen und Gässchen herumläuft. Und einen Dank für das, was man ihnen tut, kennen sie nicht.“ – (Anmerkung unsererseits: Interessante Worte einer Zeitung eines Volkes, das gerade ein paar Jahre zuvor über 50 Millionen Menschen den Tod brachte!)
Prof. Dr. Gassert machte darauf aufmerksam, dass damals die Flüchtlinge aus Ungarn nicht als Donauschwaben, sondern häufig als Bauern bezeichnet wurden, und die Menschen aus Tschechien nicht als Sudetendeutschen, sondern als Tschechische Arbeiter. (Anmerkung unsererseits: „Die Flüchtlinge aus Ungarn wurden oft auch als „Zigeuner“ beleidigt und herabgewürdigt, und das noch bis spät in die Nachkriegszeit hinein!“)
Ausgrenzung und Diskriminierung seien also kein neuzeitliches Problem, und vor allem ein Bildungsproblem. Dennoch wurde auch schon damals mit positiven Botschaften und gut gemeinten Appellen versucht bei der Bevölkerung mehr Empathie zu erreichen. So noch einmal ein konträres Zitat aus der Rhein-Neckar-Zeitung vom 13. April 1949:
„Wer sich aber wirklich mit Flüchtlingen beschäftigt – mit Bauern aus Ungarn, den Arbeitern aus Tschechien oder mit wem auch immer –, der wird einen Gewinn davon haben. Der wird mitunter meinen, er habe eine Reise gemacht in ein anderes Land. Wenn er ganz ehrlich ist und sich nicht völlig verschanzt hinter seinen Dünkel, seinen Eigennutz, dann hat er Freude an dieser Reise gehabt. […] Versuchen Sie es einmal!“
Frau Dr. Maria Alexopoulou vom Historischen Institut machte den Besuchern dann Appetit auf die Ausstellung Migration im Quadrat, die insgesamt 25 Biografien von Mannheimer Migranten beinhaltet. Die promovierte Historikerin, die an der Philosophischen Fakultät als akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim tätig ist, machte darauf aufmerksam, dass wir häufig von Fluten, Wellen und Strömungen sprechen, wenn es um Flüchtlinge geht. Eigentlich sollten uns das große Leid und die Not dieser Menschen, sowie die aktuelle Krise, beim Anblick der vielen Bilder, die tagtäglich über die Medien verbreitet werden, bewusst werden.
Diese Ausstellung soll den Fokus genau auf diese Thematiken lenken, und den Besuchern einen biographischen Zugang zu der Thematik liefern, denn die Vernissage zeigt mit Bild- und Informationsmaterial unterschiedliche Migranten, Individuen und Motive auf, und warum diese gerade nach Mannheim gekommen sind, und welche unterschiedlichen Erfahrungen sie hier gemacht haben.
Die Ausstellung verleiht den Migranten erstmals eine Stimme, die häufig im ausgrenzenden Diskurs leider untergeht.
Frau Dr. Anja Gillen vom Stadtarchiv stellte dann noch vier besonders erfolgreiche Migranten persönlich vor. Das waren neben Dr. Stanislaus Stepień, dem Sohn eines polnischen Vaters und französischen Mutter, der sein Schicksal, sich wie ein NIEMAND gefühlt zu haben und nicht anerkannt gewesen zu sein, in seiner Dissertation „Displaced Person“ verarbeitete und niederschrieb, der aus Böhmen stammende Dr. Erhard Bruche, und späterer CDU-Gemeinderat, sowie Ewa und Philip Adamskis (Weltmeister und Olympiasieger mit dem deutschen Achter), die wegen ihrer Herkunft auch schon im polnischen Kindergarten Diskriminierungen ausgesetzt waren. Die Diskrimination ist also kein rein deutsches Phänomen, sondern sie ist ein grenzübergreifendes.
Musikalisch umrahmt wurde die Ausstellungseröffnung von den Musikern Ansu Mane, der uns einen Song in seiner Muttersprache und auf seiner afrikanischen Harfe, der Kora, zum Besten gab, sowie der Sängerin Serap Pil, die uns zwei melancholische Titel auf Türkisch präsentierte. Rhythmisch unterstützt wurde die beiden von Jonas Herpichböhm an der Jembe und Uli Krug am Sousaphone. Zusammen lockte das multikulturelle Quartett, dem man problemlos noch stundenlang hätte lauschen können, die Besucher mit ihren Klängen und Melodien in ferne Länder. Von Mannheim nach Afrika, und das alles in nur fünf Sekunden. Das ist auch eine Art von Verewigung.
Im Anschluss an diese sehr aufschlussreiche Eröffnung gab es eine hochinteressante Reise durch die beiden Archive der Stadt. Hier besuchten wir zuerst mit Herrn Dr. Christian Popp das gigantische Magazin, quasi das Herzstück Mannheims. In sage und schreibe 96.000 Schuhkartons (!) ruht hier derzeit das große und wichtige Wissen der Stadt, sowie die gesamte Stadtgeschichte, und es werden von Tag zu Tag mehr Kartons.
Wer hier etwas sucht, oder etwas finden möchte, der muss sich nicht nur sehr gut auskennen, sprich ganz genau Bescheid wissen, wo sich bestimmte Sachen befinden, sondern er muss auch die kurzzeitig entnommenen Dokumente im Nachhinein wieder exakt an den gleichen Platz zurückgelegen. Das hört sich ziemlich logisch und auch nicht allzu schwierig an, berücksichtigt man allerdings die Tatsache, dass die sich komplette Mannheimer Enzyklopädie über eine Strecke von 13 Kilometer verteilt, wird die Sache schon ein wenig komplizierter.
Hin und wieder sehen sich die Verantwortlichen jedoch mit besonderen Dokumenten oder auch geschichtlich relevanten, bzw. epochalen Werken konfrontiert, bei denen sie nicht immer ganz genau wissen, in welchen Schuhkarton sie diese denn einordnen sollen. So legen die Mitarbeiter diese Werke, wie hier zum Beispiel das Harry-Potter-Buch, meist für alle sehr gut sichtbar und auch für jeden und jederzeit auffindbar im Magazin ab.
Nach diesem erheiternden Rundgang folgte als nächstes der Besuch des Digitalisierungszentrums unter der Führung von Herrn Thorsten Baron. Das Digitalisierungszentrum wurde 2009 offiziell eingeweiht und verfügt mittlerweile über mehrere unterschiedliche Scanner, darunter auch einen A1-Scanner, der in der Lage ist historische Bücher und Unterlagen einzulesen. Auch Plakate im A0 Format sind mit der technischen Ausstattung des Digitalisierungszentrums möglich. In den ersten sechs Jahren konnten die Mitarbeiter bereits alle Ratsprotokolle und Plakate von 1605 bis heute digitalisieren. Deshalb sind sie nun vermehrt auch in der Lage Digitalisierungsaufträge für andere Städte und Gemeinden, wie die Landeshauptstädte Karlsruhe und Mainz anzunehmen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die gescannten Bilder nachträglich nicht digital aufgebessert werden, denn das würde das Original verfälschen, sprich die Kopie nicht mehr exakt dem Original entsprechen, was sie ja eigentlich, sowieso nicht tut.
Datenmäßig beläuft sich die bisherige Menge der Digitalisierung mittlerweile auf stolze 100 Terrabyte, und ähnlich wie im Magazin, wird auch diese immer größer. Weggeworfen werden die gescannten Unterlagen jedoch nicht, sondern sie wandern zurück in das klassische Magazin, und ab 2017, wenn alles gut verläuft, in den Hochbunker – das MARCHIVUM.
Bilder: Alexander Höfer
Diese Berichte könnten euch auch interessieren:
Freundschaften | Willkommensfest | BUNT braucht keine Farbe | Sprachen, die verbinden |
1. Inter. Frühstück | Ludwigshafen ist bunt | K♥banê | Begegnungsfest |
ANIMUS KLUB
Geschichtliches Wissen hilft, damit man in schwierigen Zeiten nicht in Angstpsychosen verfällt. – (Prof. Dr. Philipp Gassert)
„Hat euch unser Bericht gefallen?“ – Wenn ja, dann würden wir uns über euer „Like“ und einen Kommentar auf Facebook sehr freuen. Vielen Dank