Die etymologische Furt – die kleine Archäologie des Zorns – die Zikelballerina – und ein Festnetztelefoniersessellappen – Das Lineal der Gerechtigkeit trumpft im Heidelberger Kunstverein auf, mit der Edition laufender Kreativität!
„I Am Nothing“ oder zu Deutsch „Ich bin nichts“ von Rodrigo Hernández heißt die neue Ausstellung des Heidelberger Kunstvereins, und sie trifft damit, ähnlich wie die Vernissage im Frühjahr „Gegen Faulheit“ wieder eine Alltagsgenwart.
Seit dem neuen Jahrtausend, sowie dem gleichzeitigen Beginn der Globalisierung, und der damit verbundenen weltweiten Vernetzung können wir viele Dinge nicht mehr richtig wahrnehmen, nicht mehr intensiv betrachten, und auch nicht mehr wirklich verinnerlichen. Das schöne Bild – das interessante Bild – das geniale Bild, oder auch – das nachdenkliche Bild, verliert immer mehr an Bedeutung oder verirrt sich oft im Dschungel der sozialen Netzwerke, deren sintflutähnlichen Informationen wie ein Schwarm Glühwürmchen schnell vor unseren Augen vorbeihuschen, und gleich darauf wieder in die Vergesslichkeit verlöschen. Nichts im Leben scheint mehr Wert zu haben – einen Mehrwert für das Leben!
Gleiches gilt auch für besondere Bauwerke, die wir im urbanen Häusermeer oft nicht mehr wahrnehmen können, weil Vieles gleich aussieht, und parallel dazu auch Vieles absolut unauffällig wirkt, normal, oder vielleicht normgerecht?
Heute werden an einem einzigen Tag mehr Fotos gemacht, als im letzten Jahrhundert zusammen. Alles, jede Situation wird mit einem Foto festgehalten, und sofort ins Netz gestellt oder verschickt (gepostet), egal ob das Bild gut oder schlecht ist, egal ob es verwackelt oder verzerrt wirkt, oder ob es rein gar nichts aussagt. Hauptsache man hat etwas geteilt, um zu zeigen, dass man auch jemand ist, tief im Herzen des Cyberspaces, der täglich Milliarden neue Informationen erhält und verteilt, aber auch Milliarden von Informationen, die für den einzelnen absolut unwichtig, um nicht zu sagen wertlos sind. Überhaupt: „Wem gefällt eigentlich ein unscharfes oder einen verwackeltes Bild?“ – Uns nicht, denn es offenbart, wie schlecht der Fotograf war, der es gemacht hat.
Den besonderen Moment jedoch; also DEN Moment, der beim Betrachter das Gefühl erweckt, genauer hinzuschauen, weil das Bild, bzw. das Kunstwerk durch sein Aussehen oder durch seine Originalität Interesse und vielleicht auch Neugierde erweckt – diesen besonderen Moment fangen sehr wenige Fotografen ein.
Dementsprechend erwartete uns im Heidelberger Kunstverein dieses Mal ein fast leerer Raum, der aber, beim genaueren Hinschauen, und das ist in der Tat ganz große Kunst, prallgefüllt war, mit einer absolut genialen Ausstellung. Hier haben die Kuratorin Frau Susanne Weiß und ihr Team wirklich ein kleines Wunder vollbracht, denn ihnen ist es gelungen den fast leer wirkenden Raum mit unglaublich viel Kreativität zu füllen. Von ganz schlichten Zeichnungen, die dem Können eines/einer Dreijährigen sehr nahe kommen, bis hin zu extravaganten Werken, die ein großes Können widerspiegelten, war quasi alles vorhanden, was den Betrachter zum näheren Hinschauen verleitete oder mit dem berühmten „Aha-Effekt“ verblüffte. So haben sich unsere Jugendlichen dieses Mal sehr intensiv mit den Ausstellungsstücken beschäftigtet.
Im Parterre gab es die Gruppenvernissage „Das Lineal der Gerechtigkeit“, von den drei Künstlerinnen Andrea Tippelt, Silvia Bächli und Geta Brătescu zu bewundern. Hier waren zunächst einmal gut einhundert Bilder lateral-hängend an der Wand befestigt. Um die Werke beim Durchschauen nicht zu beschädigen, mussten wir Stoffhandschuhe anziehen. Hier hingen die ersten Zeichnungen, die nicht wirklich den Eindruck machten, dass ein großes künstlerisches Können notwendig war, um diese zu erstellen.
Erst durch eine kleine Erläuterung unseres ersten Vorsitzenden wurde unseren Kids deutlich, dass jeder Strich auf den einzelnen Bildern gleichzeitig einer bestimmten Haltung entsprach, und unmittelbar in Bezug zum eigenen Körper steht.
Die Künstlerinnen Tippelt, Bächli und Brătescu verfolgen damit das Ziel, das Zeichnen als Prozess des Welt-Verstehens, des Denkens und des Kommunizierens zu sehen.
Im Studio/Lichthof des Hauses befand sich dann die Installation von Hernández, eine Mischung aus Bildern und Objekten, die auf irgendeine Weise immer miteinander im Kontext stehen – entweder im Farblichen, im Historischen oder eben im Künstlerischen. Auch hier lassen die Verantwortlichen den Besuchern sehr viel Raum die einzelnen Werke zu betrachten und intensiv in sich aufzunehmen. Im Mittelpunkt steht hier neben dem „Title-Track“ der Ausstellung „I Am Nothing“, der übrigens gleich zwei Mal in unterschiedlicher Form vorhanden ist – nämlich als Objekt und als Bild – die Figure 1 „Моэаика“, die den Detektiven Guy Roland aus Patrick Modianos Buch „Die Gassen der dunklen Läden“ darstellen könnte, denn sie zeigt einen leeren Menschen, dessen Vergangenheit abhandengekommen zu sein scheint und der keinerlei Fähigkeiten besitzt, aber dessen Leben sich im Laufe der Handlung mit sehr viel Reichtum füllt.
Auf der oberen Etage gab es dann die in unserer Überschrift schon vorweggenommene Kreativität par excellence zu bestaunen, eine Kreativität, die an Genialität nicht wirklich zu übertreffen war. Bis zum 20. November könnt ihr diese Ausstellung noch im Heidelberger Kunstverein bewundern. Ein Besuch lohnt sich dieses Mal besonders, denn es ist die letzte Ausstellung von Kuratorin Susanne Weiß, die wieder zurück in ihre Heimatstadt Berlin geht.
Wir wünschen ihr auf ihrem weiteren Berufsweg alles Gute und möchten uns an dieser Stelle auch für ihr tolles Interview bedanken, das sie uns im Juli dieses Jahres gegeben hat, und dass wir in naher Zukunft – wahrscheinlich über die Weihnachtszeit oder im Frühjahr 2017 – veröffentlichen werden.
Bilder: Alexander Höfer
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