Das einstige Leningrad im Retrospektiv! – Fotografin Ella Kehrer sprach in der GIFTBOX über ihre Kindheit und die Unterschiede zum heutigen Sankt Petersburg!
Zwanzig Jahre lebte Ella Kehrer in der „elitären“ Großstadtmetropole Sankt Petersburgs, bevor sie nach Deutschland flüchtete, um eine bessere künstlerische Zukunft zu haben. Sankt Petersburg selbst, war und ist, was die Kunst betrifft, eher eine konservative Stadt. So ist künstlerische Freiheit an den Universitäten ziemlich eingeschränkt, und man muss ganz bestimmte Grundvoraussetzungen mitbringen, um überhaupt Kunst studieren zu dürfen.
Auf Anraten ihrer Mutter, sowie dem Drängen ihres damaligen Freundes, entschied sich Ella Anfang der Neunziger ihre Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, wobei sie weder das einstige Leningrad, noch das heutige Sankt Petersburg als persönliche Heimat bezeichnet. In den letzten 24 Jahren besuchte sie gerade fünf Mal diese Stadt, die sich nach der Wende auch extrem gewandelt und verändert hat.
Ella spricht darüber, dass die Atmosphäre heute wesentlich kälter und aggressiver geworden ist, und schildert sehr drastisch mit traurigen Bespielen den sozialen Zerfall, und die unschöne Zwischenmenschlichkeit der Menschen, die wir ja auch hierzulande immer deutlicher spüren können.
Während früher bei einem versehentlichen Rempler in der Straßenbahn eine einfache Entschuldigung genügte, um die Situation zu bereinigen, ist es heute nichts Seltenes, dass derjenige, der angerempelt wurde, ohne zu zögern auf den Verursacher losgeht und auf ihn einschlägt.
Auch die Frauenfeindlichkeit hätte enorm zugenommen. Während früher bei einer Anmache ein klares „Nein“ seitens der Frau auch als „Nein“ vom Mann akzeptiert wurde, kann es sein, dass eine Frau dann erst recht angegriffen wird.
Der Snobismus der Stadt sei allerdings geblieben. Noch heute fühlen sich die Sankt Petersburger als etwas Besseres, vor allem gehobener als Moskau. Die einstige Hauptstadt der Sowjetunion und heute mit etwas mehr als 5 Millionen Einwohnern viertgrößte Stadt Europas, glänzt, ähnlich wie viele sozialistischen Großstädte mit einer äußerlich prunkvollen Fassade, deren innerer Kern jedoch verfault.
Ella war es wichtig 20 Jahre nach ihrem Weggang noch einmal ganz bestimmte Kindheitserinnerungen einzufangen. Jeder von uns hätte mindestens eine Geschichte, die es Wert sei zu erzählen, und besonders Menschen, die in unterschiedlichen Ländern gelebt haben, können so ihre Eindrücke und Erlebnisse weitergeben. Deshalb kam ihr die Idee ihre Wintererinnerungen noch einmal einzufangen. Der Winter in Sankt Petersburg ist etwas ganz Besonderes. Vor allem besonders kalt. Minus 25 Grad im Schnitt umhüllen Straßen, Häuser, Autos und natürlich auch die Wälder und Felder mit einer dicken weißen Schneedecke.
Wenig Farbe haben die kleinen Gässchen aber auch die Hauptverkehrsstraßen der Stadt, und das Weiß des Winters lässt die Häuserfassaden noch trauriger und trister aufleben als ohnehin schon.
Ein schneebedeckter Lada, der uns sofort als Eyecatcher in der Ausstellung entgegenwinkte, erweckt auf eine wundersame Weise melancholische Nostalgie. Ella war es bei ihrer Verwirklichung sehr wichtig nur die Momente einzufangen, die auch vor zwanzig Jahren zu ihrer Kindheit gehörten. So fotografierte sie die goldene Statue des berühmten russischen Schriftstellers Puschkins auch von hinten, denn nur von dieser Sicht hatte sie ihn gesehen.
Insgesamt 4.000 Bilder machte Ella Kehrer bei ihrer Reise, von denen ein kleiner Querschnitt die Ausstellungswände der Giftbox zieren. Nach dem Künstlergespräch, das von Alexa Becker geführt wurde, gab Ella den Besuchern dann noch die Möglichkeit über einen Laptop weitere, teilweise auch atemberaubende Bilder ihrer einstigen Wintererinnerungen einzusehen.
So war die Ausstellung vor allem eine Anregung dafür, wie man richtig guten Bildern seine Projektarbeit dokumentiert, und damit gleichzeitig ein ganz wichtiger Input für unsere Jugendlichen, die ja derzeit große Fortschritte beim Fotografieren machen.
Bilder: Slawa Kostin
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